Nun konnten wir alle in den vergangenen Wochen unsere ganz eigenen Erfahrungen mit Beschränkungen und dem Gefühl des Eingesperrtseins machen.
Täglich laufen wir unseren Käfig ab in der Hoffnung einen neuen Ausblick zu ergattern. Diese ungewohnte Begrenztheit birgt viele Mysterien.
Als Partner regt uns vielleicht auf, wie er/sie die Spülmaschine einräumt, als Bewohner eines Mehrfamilienhauses nerven eventuell die Nachbarn. Noch nie mussten wir so viel Zeit mit Menschen unter einem Dach verbringen, die wir sonst nur grüssen. Plötzlich wird man Zeuge von Dingen, die einen eigentlich nicht interessieren, aber auch manchmal nichts angehen:
Streit im Nachbarhaus, ausquartierte Ehemänner, brüllende Kinder. Ständig begegnet einem jemand im Treppenhaus, oft sieht man selbst nicht gerade *gut* aus. Schlabberlook ist angesagt.
Familie X lässt wieder alles einfach vor der Tür rumliegen, gefegt wird auch nicht. Die Neuen halten sich nicht an die Gepflogenheiten im Garten und der Hund von drüben pinkelt am liebsten bei uns.
Nur wir selbst sind natürlich verantwortungsbewusst und machen alles richtig. Lauschen nicht bei den Telefonkonferenzen, die auf dem Balkon stattfinden (was macht der oben eigentlich?), achten nicht auf das Geschepper von Glasflaschen (Herr Y hatte wohl wieder Durst gestern Abend). Und selbstverständlich beobachten wir nicht heimlich das merkwürdige Verhalten der Dame von ganz unten, die einen angeschlagenen und verstörten Eindruck macht, seit ihr Mann mit einem Koffer das Haus verliess (wo steckt der eigentlich seit 4 Wochen?).
Ja – die soziale Kontrolle ist in diesen Zeiten ausserordentlich gross. Ausspionieren und verleumden wird plötzlich ganz leicht gemacht. Dabei wünscht sich das keiner.
Ich begreife zum ersten Mal ansatzweise, was es heisst in einem Überwachungsstaat leben zu müssen. Auch für mich gilt:
Abstand und Respekt wahren – nicht nur aus Hygienegründen!