Sensitivity Reading

Mein früheres Berufsleben war ursprünglich eng mit der Buch- und Verlagswelt verknüpft, weswegen mich Themen aus diesem Bereich immer wieder anspringen. Seit Monaten stolpere ich nun über “ Sensitivity Reading“ – ein Begriff aus den USA, woher auch sonst.

Um es vereinfacht auszudrücken geht es darum, dass Literatur, wie so viele andere Bereiche auch, „korrekt“ sein muss. Diskriminierende oder potentiell triggernde Begriffe und Darstellungen sollen in Büchern vermieden werden.

Jeder kennt das berühmte „N-Wort“, das stellvertretend für diesen Trend steht. Koeppens Roman „Tauben im Gras“ ist plötzlich diesem Hype zum Opfer gefallen und als Schullektüre nicht mehr tragbar, obwohl er ein Zeitdokument ist und sich hervorragend als Diskussionsgrundlage um diese Thematik eignet. Genau so haben die Menschen damals geredet und empfunden.

Auch Roald Dahls Trigger-Wort „fett“ – ersetzt durch „kräftig“ – ändert grundsätzlich nichts am Denken und Beurteilen der Menschen. Kinder werden weiterhin unter bestimmten Umständen „du fette Kuh“ sagen.

Ist die heutige Leserschaft dermassen empfindlich, dass potentiell verletztende Texte sprachlich geglättet werden müssen?

Der Literaturkritiker Iljoma Mangold – selbst als Mischlingskind aufgewachsen – drückt es in einem Interview des NDR vom 03.04.23 so aus : Es geht natürlich überhaupt nicht darum, vorsätzlich jemanden zu demütigen oder ihm ein traumatisierendes Erlebnis aufzuzwingen. Aber so eine gewisse Robustheit in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit gehört doch auch dazu. Wir können doch Dinge, die die Wirklichkeit ausmachen, nicht ausklammern, weil Leute sagen, sie sind von ihr psychisch überfordert.

Ich habe kürzlich in einem Podcast des Deutschlandfunks gehört, dass einer Autorin, die über ihre eigene Familie schrieb, in der das Thema Taubstummheit prägend war, nahe gelegt wurde, diesen Begriff zu meiden…

Einzelne Wörter oder Ausdrücke zu ersetzen ändert nichts an der grundsätzlichen Denkweise von Menschen. Ausserdem müssten diese Menschen, die vor Diskriminierung oder Rassismus geschützt werden sollen – und zum Teil sogenannten bildungsfernen Bevölkerungsgruppen (Achtung Trigger) angehören – erst einmal in die Lage versetzt werden, Bücher als ein Instrument der Meinungsbildung zu begreifen. Ein Viertel der Schüler in Deutschland erfüllt nicht den international festgelegten Mindeststandard beim Lesen.

Unsere Gesellschaft ist eindeutig vielfältiger, multikultureller und diverser geworden als in meiner Jugendzeit. Sprache verändert sich laufend, so wie sich jeder Einzelne hoffentlich verändert und im besten Fall weiterentwickelt, aber Literatur im Nachhinein zu korrigieren empfinde ich als Eingriff in Sprach- und Zeitdokumente.

Bildnachweis: Pixabay am 01. Februar 2021 hochgeladen von CDD20