In meinem Umfeld gibt es erstaunlich viele Bekannte oder Freunde, die zumindest noch einen hochbetagten Elternteil haben – oft im Alter zwischen 87-97. Sie berichten, wie geistig fit und beweglich diese Mütter oder Väter noch sind. Das wirft bei mir die Frage auf: wie lange darf man einem vermeintlich „alten“ Menschen seine höchstpersönliche Eigenständigkeit und vor allem Entscheidungsfähigkeit zugestehen. Ich spüre, wie diese Menschen sich um das Wohlergehen ihrer Eltern sorgen, aber aus Sorge kann auch schnell eine Bevormundung entstehen.
Ich gebe zu, auch ich habe die Vorstellung, ab 85 Jahren ist es dann mal genug mit all der Rücksichtnahme auf eventuelle Gemütszustände der eigenen Mutter. Aber je älter sie wird (fast 94), desto klarer wird mir, wieviel Wissen und eindeutige Meinung sie in sich trägt.
Nicht nur, dass sie umfassend in allen kulturellen Bereichen informiert ist und ihrer Tochter erläutern muss, welchen Hintergrund der derzeitige Literatur-Nobelpreisträger hat (sie Hauptschulabschluss/ich Studium)…
Nicht nur, dass sie komplexe politische Zusammenhänge erfasst und in Kontext zum 2. Weltkrieg setzt…
Nein, auch ihre klare Meinung der gesellschaftlichen Haltung alten Menschen gegenüber bringt mich ins Grübeln: dieses Nicht-Ernstnehmen ihrer Bedürfnisse, das Versauern in Pflegeheimstrukturen und der Missstand, dass überwiegend börsennotierte Unternehmen mittlerweile den Pflegebereich beherrschen. Leider habe ich auch diese Tatsache erst durch sie erfahren.
Demgegenüber steht die nahezu narzistische Befindlichkeitskultur der jüngeren Generation, die fast täglich in den Medien gefühlte oder echte Benachteiligungen in fast allen gesellschaftlichen Bereichen – sei es Berufsleben, Sprache, Unternehmensstrukturen, Geschlechter usw. – thematisiert und ein ständiges Hinhören einfordert. Wohlgemerkt: vieles davon ist richtig und wichtig!
Aber was macht diese Generation in 60 Jahren, wenn ihnen keiner mehr zuhört?
Bildnachweis: Pixabay am 27. Juni 2013 hochgeladen von geralt