Mit Beginn des Jahres wurde ich quasi über Nacht in eine völlig neue Lebenssituation katapultiert.
Bis dahin hatte ich einen recht angenehm getakteten Alltag mit bereichernden Sozialkontakten, Kultur und der Aussicht auf ein „Reisejahr“. Mein frisch pensionierter Mann und ich schmiedeten eifrig Pläne. Dann wurden wir von der Wirklichkeit eingeholt.
Natürlich freue ich mich, dass meine betagte Mutter noch lebt. Ihre geistige Präsenz und ihre politische Versiertheit sind beeindruckend. Mein Gedächtnis funktionert längst nicht so gut wie ihres. Konnte sie bisher allein und selbstbestimmt leben, plagen sie nun aber diffuse Ängste. Vor allem die Angst, plötzlich nicht mehr zu atmen – und dann mit dieser Situation allein zu sein.
Wir nehmen das ernst, denn wer weiss schon, wann sich ein Leben seinem Ende zuneigt? Aber diese Situation bringt uns Geschwister an unsere Grenzen. Dabei handelt es sich bisher um keine Pflegesituation, es geht einfach um Anwesenheit, ums Da-sein, vor allem in der Nacht.
Aber wie kann man einfach mal so auf die Schnelle da sein?
Zwischen Partnerschaft, Enkeln und sonstigen Verpflichtungen ringe ich mir irgendwie die Zeit ab, verbringe regelmässig hunderte von Kilometern im Zug. Das Warten auf verspätete oder ausgefallene Verbindungen ist mittlerweile Routine und das Rückforderungsformular der Deutschen Bahn kenne ich auswendig. Ich habe mir sogar überlegt, dieses Unternehmen auf Lebenszeit-Klau zu verklagen.
Zu all dem gesellt sich die ernüchternde Erfahrung, dass alte Geschwisterkonflikte plötzlich wieder aufbrechen und sich auf meine Selbstwahrnehmung auswirken: Da ist sie wieder, diese störrische und motzende Kleine, die man dann einfach ignoriert…
Dabei wollte ich doch nur endlich einfach „losleben“…
Bildnachweis: Pixabay am 14.03.2019 hochgeladen von CDD20