Durch den Wind…

Mit Beginn des Jahres wurde ich quasi über Nacht in eine völlig neue Lebenssituation katapultiert.

Bis dahin hatte ich einen recht angenehm getakteten Alltag mit bereichernden Sozialkontakten, Kultur und der Aussicht auf ein „Reisejahr“. Mein frisch pensionierter Mann und ich schmiedeten eifrig Pläne. Dann wurden wir von der Wirklichkeit eingeholt.

Natürlich freue ich mich, dass meine betagte Mutter noch lebt. Ihre geistige Präsenz und ihre politische Versiertheit sind beeindruckend. Mein Gedächtnis funktionert längst nicht so gut wie ihres. Konnte sie bisher allein und selbstbestimmt leben, plagen sie nun aber diffuse Ängste. Vor allem die Angst, plötzlich nicht mehr zu atmen – und dann mit dieser Situation allein zu sein.

Wir nehmen das ernst, denn wer weiss schon, wann sich ein Leben seinem Ende zuneigt? Aber diese Situation bringt uns Geschwister an unsere Grenzen. Dabei handelt es sich bisher um keine Pflegesituation, es geht einfach um Anwesenheit, ums Da-sein, vor allem in der Nacht.

Aber wie kann man einfach mal so auf die Schnelle da sein?

Zwischen Partnerschaft, Enkeln und sonstigen Verpflichtungen ringe ich mir irgendwie die Zeit ab, verbringe regelmässig hunderte von Kilometern im Zug. Das Warten auf verspätete oder ausgefallene Verbindungen ist mittlerweile Routine und das Rückforderungsformular der Deutschen Bahn kenne ich auswendig. Ich habe mir sogar überlegt, dieses Unternehmen auf Lebenszeit-Klau zu verklagen.

Zu all dem gesellt sich die ernüchternde Erfahrung, dass alte Geschwisterkonflikte plötzlich wieder aufbrechen und sich auf meine Selbstwahrnehmung auswirken: Da ist sie wieder, diese störrische und motzende Kleine, die man dann einfach ignoriert…

Dabei wollte ich doch nur endlich einfach „losleben“…

Bildnachweis: Pixabay am 14.03.2019 hochgeladen von CDD20

2 Gedanken zu „Durch den Wind…

  1. Mia

    Dabei wollte ich doch nur endlich einfach „losleben“…

    Dieser dein Satz berührt mich sehr. Endlich pensioniert, endlich frei, ein neues Leben… – und plötzlich sind sie wieder da, die Sachzwänge.

    Es ist hart, aber die Zeit, als uns das Leben zu Füssen lag, ist vorbei.
    Ist sie das? Nein, das wäre zu traurig, das würde uns ja alle Perspektiven nehmen.

    Das Losleben ist sicher nicht mehr im selben Mass möglich wie in unseren wilden Jugendjahren. Doch davon zu träumen hilft vielleicht, die Zeit zu überbrücken, bis wieder mehr Freiraum da ist. Und: Weiter motzen, das tut gut!

    • Fee66

      Hallo Mia,
      dein Kommentar tut richtig gut!
      Es ist erstaunlich, wieviele Reaktionen ich zu diesem Thema Geschwisterkonflikte erhalten habe. Anscheinend haben viele in unserem Alter angefangen rückwärts zu schauen, gerade weil uns das Leben nicht mehr zu Füssen liegt. Findet nun plötzlich eine Art Abrechnung mit der Vergangenheit statt? Als Spielwiese eignen sich da wunderbar vertraute Familienstrukturen.
      Viele Grüsse!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Der Zeitraum für die reCAPTCHA-Überprüfung ist abgelaufen. Bitte laden Sie die Seite neu.