In unregelmässigen Abständen fahre ich mit meiner Schwester in ihr Ferienhaus irgendwo jenseits der Alpen. Schon Tage vorher stimme ich mich mental auf diese Reise ein, sage mir: bleib ruhig, lass dich nicht provozieren, nimm sie wie sie ist.
Den ersten Tag überstehen wir – ich nehme an, sie brieft sich ebenso – mit dieser Taktik meist recht gut. Spätestens am zweiten Tag werfen wir uns rechthaberisch unschöne Dinge an den Kopf. Ab dann frage ich mich jedes Mal, was ich eigentlich erwartet hatte.
Wir befinden uns beide im allerletzten Abschnitt unseres Lebens! Haben ein mehr oder weniger erfolgreiches Berufsleben hinter uns, Kinder gross gezogen und sind mittlerweile Grossmütter. Aber emotional stecken wir in unserer Kindheit fest.
Alte Verhaltensmuster, Prägungen und Zuordnungen innerhalb der Familie suchen sich ihr Ventil und kommen explosionsartig an die Oberfläche. Ein respektvolles Gespräch über unsere Kernfamilie ist auch nach über 60 Jahren nicht möglich. Dabei ist beidseitig viel Zuneigung und Verbundenheit vorhanden.
Nach einer solchen Reise brauche ich oft Tage, um meine zersprungene Persönlichkeit – zumindest was ich dafür halte – wieder zusammenzusetzen. Aber vielleicht hilft mir ja diesmal das Buch von Bettina Flitner „Meine Schwester“, mich diesem Phänomen anzunähern.
Zufällig (?) bin ich während des Zusammenseins mit meiner Schwester über einen Podcast des SRF-Literaturclub gestolpert. Die Moderatorin Nicole Steiner war offensichtlich von diesem Thema und dem Roman der Fotografin Bettina Flitner so berührt, sodass sich mir die Lektüre quasi aufdrängt.
Da bewahrheitet sich mal wieder das Goethe Zitat: *man sieht nur, was man weiss*. In meinem Fall hörte ich, wofür ich sowieso schon sensiblisiert war.
Bildnachweis: Pixabay am 09.Juli 2021 hochgeladen von karlrots